Verbindlichkeiten in der Insolvenz: FG Münster stärkt die Pflicht zur Passivierung

Von Andreas Kemmerling 24. September 2025 5 min. Lesezeit
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Das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 10. Oktober 2024 (Az. 10 K 3000/21 K, G) beleuchtet eine praxisrelevante Frage der steuerlichen Behandlung von Verbindlichkeiten im Insolvenzverfahren. Im Zentrum stand die Situation, dass eine Gläubigerin ihre Forderung zwar ursprünglich zur Insolvenztabelle angemeldet hatte, diese jedoch – vor ihrer Feststellung im Sinne von § 178 InsO – wieder zurücknahm. Grundlage dieser Rücknahme war ein gerichtlicher Vergleich, in dem sich die Gläubigerin verpflichtete, die Forderung im Insolvenzverfahren nicht weiter zu verfolgen. Damit lag keine bindende Tabellenfeststellung vor – was entscheidend ist, denn nur so konnte sich das FG überhaupt mit der steuerlichen Bewertung der dahinterstehenden Verbindlichkeit befassen.

Diese Rücknahme wurde vom Insolvenzverwalter zum Anlass genommen, die Verbindlichkeit in der Steuerbilanz auszubuchen – mit der Folge eines Ertrags. Auch das Finanzamt erkannte diesen Ertrag an und behandelte ihn als steuerpflichtig. Der Streit vor dem Finanzgericht entzündete sich jedoch nicht an der bloßen Erfassung des Ertrags, sondern an der Zulässigkeit der Ausbuchung selbst. Der Insolvenzverwalter trug vor, dass die Ausbuchung irrtümlich erfolgt sei, weil die Forderung rechtlich fortbestehe und ein steuerlicher Ertrag deshalb nicht entstehen dürfe. Das Finanzamt hingegen vertrat die Auffassung, dass – wenn schon ein Ertrag bilanziert worden sei – dieser auch zu versteuern sei. Das FG hatte daher zu entscheiden, ob die Verbindlichkeit zu Recht ausgebucht wurde und ob ein steuerpflichtiger Ertrag vorlag.

Das FG Münster entschied: Eine bloße Rücknahme der Forderungsanmeldung ist kein Verzicht. Solange die rechtliche Möglichkeit der Geltendmachung nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann – etwa im Fall einer Fortführung der Gesellschaft, bei freigegebenem Vermögen oder durch spätere Nachtragsliquidation – bleibt die Verbindlichkeit bilanziell zu passivieren. Die Ausbuchung war somit unzulässig.

Darüber hinaus stellte das Gericht klar, dass in diesem Fall kein Passivierungsverbot nach § 5 Abs. 2a EStG gegeben war. Diese Norm untersagt die Passivierung von Verbindlichkeiten, wenn sie ausschließlich aus künftigen Gewinnen oder einem Liquidationsüberschuss zu bedienen sind. Im Streitfall war die Verpflichtung zur Rückzahlung jedoch nicht auf bestimmte Vermögensquellen eingeschränkt, sondern auch aus dem sogenannten „freien Vermögen“ erfüllbar. Entscheidend sei – so das FG –, dass der Rückgriff auf freie Vermögenswerte nicht ausgeschlossen wurde. Ob tatsächlich freies Vermögen vorhanden war oder geschaffen werden konnte, spiele für die Anwendung des § 5 Abs. 2a EStG keine Rolle.

Diese Klarstellung ist in der Praxis bedeutsam, weil häufig versucht wird, Rangrücktritte oder Stillhalteabreden unter § 5 Abs. 2a EStG zu fassen, um eine Nichtpassivierung zu begründen. Das Urteil stellt jedoch klar: Solange der Zugriff auf das gesamte Vermögen nicht eindeutig beschränkt ist, bleibt die Pflicht zur Passivierung bestehen.

Die Entscheidung wurde in der Fachwelt zum Teil als zu formalistisch kritisiert. Tatsächlich ist es in vielen Insolvenzverfahren wenig wahrscheinlich, dass eine solche Forderung je wieder geltend gemacht wird – dennoch soll sie steuerlich weiter belastend wirken. Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich: Der formalistische Ansatz schützt Unternehmen in gewisser Weise sogar. Denn solange eine Verbindlichkeit bilanziell fortgeführt wird, entsteht kein steuerpflichtiger Ausbuchungsgewinn. Unternehmen werden dadurch nicht gezwungen, auf bloße Buchgewinne Steuern zu zahlen, ohne dass ein tatsächlicher Liquiditätszufluss erfolgt. Dies mag in Insolvenzverfahren aufgrund von hohen steuerlichen Verlustvorträgen teilweise nicht der Fall sein, allerdings kann hier mitunter ein Problem im Rahmen der Mindestbesteuerung entstehen.

Insofern bewahrt die strenge Linie des FG Münster Unternehmen gerade in der Krise davor, durch rein bilanzielle Vorgänge steuerlich belastet zu werden. Sie wahrt den Ausweis rechtlich bestehender Risiken und schützt vor dem Risiko, „Scheingewinne“ versteuern zu müssen.

Das Urteil des FG Münster mag auf den ersten Blick formalistisch wirken – bei näherer Betrachtung trägt es jedoch zur steuerlichen Klarheit bei. Es schützt Unternehmen davor, vorschnell fiktive Gewinne zu versteuern, und setzt einen verlässlichen Rahmen für die Behandlung noch nicht endgültig erledigter Verbindlichkeiten. Dennoch zeigt sich: Gerade in insolvenznahen Fällen bleibt der Spielraum für eine wirtschaftsnahe Bewertung begrenzt. Die Entscheidung verdeutlicht weiterhin, dass steuerliche Entlastung nur bei eindeutigem Forderungsverzicht möglich ist – nicht aber bei bloßer Verfahrensrücknahme. Damit schafft das FG Münster Rechtssicherheit, verlangt aber auch eine saubere Dokumentation und rechtliche Trennung wirtschaftlicher und rechtlicher Vorgänge. Für Berater wie Unternehmen heißt das: Genau hinsehen, bevor bilanziell entlastet wird.