Streitige Verbindlichkeiten bei der Zahlungsunfähigkeitsprüfung

Von Dr. Andreas Pink, Kenza Thos 22. May 2023 5 min. Lesezeit
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(Inwiefern) Ist eine vom Schuldner bestrittene, prozessbefangene Verbindlichkeit bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit im Finanzstatus zu berücksichtigen?

Einleitend:

Die Frage der Berücksichtigung einer streitigen oder prozessbefangenen Verbindlichkeit im Rahmen der Prüfung der Insolvenzreife, insbesondere hinsichtlich des Insolvenzgrundes der Zahlungsunfähigkeit i.S.d. § 17 InsO, wird in der Literatur unterschiedlich beantwortet (vgl. Pulte, ZInsO 2020, 2695 ff.). Dieser Beitrag dient dazu, den derzeitigen Stand in der Literatur und der (höchstrichterlichen) Rechtsprechung zu dieser Thematik aufzuzeigen. Außerdem wird die Bedeutung für die Insolvenzverwalter, die die Zahlungsunfähigkeit aus der ex-post-Perspektive (also für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt) festzustellen und bei klageweiser Durchsetzung von Haftungs- und Anfechtungsansprüchen auch vor Gericht darzulegen haben, durchleuchtet werden. Die Ausführungen gelten aber auch für die ex-ante-Prüfung.

Stand in der Literatur und Rechtsprechung zur Frage der Berücksichtigung streitiger (und ggfs. prozessbefangener) Verbindlichkeiten zur Feststellung der Zahlungsunfähigkeit

Grundsätzlich ist im Bestreiten einer Forderung durch den (späteren Insolvenz-) Schuldner zunächst ein Zahlungsunwille des Schuldners zu sehen. Dabei kann die Forderung dem Grunde nach bestritten sein und / oder lediglich der Höhe nach. Es stellt sich die Frage, ob - und gegebenenfalls wann - der Zahlungswille des Schuldners die Zahlungsunfähigkeit ausschließen kann. In der Praxis bekunden spätere Insolvenzschuldner nicht selten ihren Zahlungsunwillen, indem sie bei Lieferverhältnissen / Kaufverträgen oder Werkverträgen Mängel rügen, um damit ihre Verweigerung der Tilgung vertraglich fälliger Verbindlichkeiten zu begründen und versuchen so, ihre tatsächliche Zahlungsunfähigkeit zu kaschieren.

Es gilt nach einschlägiger höchstrichterlicher Rechtsprechung der Grundsatz, dass die Vermutung der Zahlungsunfähigkeit nicht durch den Nachweis der Zahlungsunwilligkeit des Schuldners widerlegt werden kann (BGH, Urteil vom 15.03.2012 – IX ZR 239/09, NZI 2012, 416). Erforderlich ist der Nachweis der Zahlungsfähigkeit (BGH, a.a.O.). Insofern liegt laut BGH auch dann eine Zahlungseinstellung vor (hat der Schuldner seine Zahlungen eingestellt, wird gemäß § 17 Abs. 2 InsO vermutet, dass der Schuldner zahlungsunfähig ist), wenn der Schuldner zwar nur zahlungsunwillig ist, er aber ein nach außen hervortretendes Verhalten zeigt, in dem sich typischerweise ausdrückt, dass er nicht in der Lage ist, seine fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen (Andres/Leithaus/Leithaus InsO § 17 Rn. 4 f.; BGH, Urteil vom 12.10.2017 – IX ZR 50/15, NZI 2018, 34). Von einer Zahlungsunwilligkeit, die keine Zahlungsunfähigkeit darstelle, könne nur ausgegangen werden, wenn der Schuldner nachweise, dass er theoretisch über ausreichende Zahlungsmittel zur Bedienung seiner fälligen Verbindlichkeiten verfüge, er diese Mittel jedoch nicht einsetzen wolle (Braun/Salm-Hoogstraeten InsO § 17 Rn. 35).

Nach der einschlägigen Insolvenzrechts-Kommentarliteratur sind fällige Zahlungsverpflichtungen im Sinne von § 17 InsO solche, die von Rechts wegen einwendungsfrei bestehen und fällig im Sinne von § 271 BGB sind (MüKoInsO/Eilenberger InsO § 17 Rn. 7). Im Rahmen der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit seien daher bei den zu berücksichtigenden Verbindlichkeiten etwaige Einreden des Schuldners zu berücksichtigen; ungeachtet der Tatsache, ob der Schuldner sich auf diese Einrede berufen hat (Uhlenbruck/Mock § 17 Rn. 114). Hiervon ausgenommen seien vom Gläubiger gestundete Forderungen (a.a.O.). Zahlungsunfähigkeit im Sinne von § 17 läge dann nicht vor, wenn der Schuldner eine einzelne Forderung als unbegründet ansieht und die Zahlung bei Fälligkeit daher verweigert (BGH, Urteil vom 17.05.2001 - IX ZR 188/98, NZI 2001, 417; MüKoInsO/Eilenberger InsO § 17 Rn. 9). Sei jedoch in dem gesamten Zahlungsverhalten des Schuldners eine Strategie zu erkennen, die Forderungen seiner Gläubiger erst nach (mehrfacher) Aufforderung zu begleichen oder zweifle er grundsätzlich das Bestehen von Forderungen der Gläubiger, um sich so Zahlungsaufschübe zuzubilligen, könne von einem derartigen Verhalten mit hoher Wahrscheinlichkeit auf einen Mangel an Zahlungsmitteln geschlossen werden (a.a.O.).

In der Literatur finden sich verschiedene Ansichten zu der Fragestellung, wie streitige oder prozessbefangene Verbindlichkeiten bei der Ermittlung der Insolvenzreife zu berücksichtigen sind. Nach Uhlenbruck etwa, begründen Forderungen, an deren Bestand begründete Zweifel bestehen und über deren Bestand noch nicht rechtskräftig entschieden worden ist, keine Antragspflicht für organschaftliche Vertreter juristischer Personen (Uhlenbruck, ZInsO 2006, 338, 342). Eine Antragspflicht soll selbst dann nicht bestehen, sofern die Insolvenzschuldnerin in den ersten beiden Instanzen unterlegen ist, außer der Instanzenzug wird lediglich zur Verhinderung der Feststellung der Forderung und der Antragspflicht benutzt (a.a.O.). Der BGH dagegen hatte in seiner Entscheidung vom 17.09.2009 konstatiert (BGH, Beschluss vom 17.09.2009 – IX ZB 26/08, BeckRS 2009, 27084), dass der Schuldner bei einer titulierten Forderung eines die Insolvenzverfahrenseröffnung betreibenden Gläubigers Einwendungen gegen die Vollstreckbarkeit erheben müsse. Solange die Einwendungen des Schuldners die Vollstreckbarkeit der titulierten Forderung nicht beseitigen, seien die Einwendungen des Schuldners vom Insolvenzgericht nicht zu berücksichtigen (BGH, a.a.O. Rn 5).

Die im vorgenannten Absatz zitierte Kommentarliteratur und höchstrichterliche Rechtsprechung spiegelt jedoch die verfahrensrechtliche Behandlungsweise streitiger Forderungen – aus Sicht des Schuldners streitiger Verbindlichkeiten - wider, bei der das Insolvenzgericht über das Vorliegen eines Insolvenzgrundes und somit einer Antragspflicht nach § 15a InsO zu entscheiden hat. Einen streitigen Insolvenzgrund wird das Insolvenzgericht im Zweifel nicht berücksichtigen und den Fremdantrag eines Gläubigers, der gegenüber dem Insolvenzgericht nicht glaubhaft darlegen konnte, eine fällige Forderung gegen den Schuldner zu haben, als unzulässig abweisen (Leithaus/Wachholtz, ZIP 2019, 649 f).

Von der verfahrensrechtlichen Betrachtungsweise zu unterscheiden ist dagegen die materiell-rechtliche Behandlung bei (retrograder) Prüfung der Zahlungsunfähigkeit.

Nach verbreiteter Ansicht in Literatur und Rechtsprechung ist für die Frage der Berücksichtigung streitiger Forderungen bei der Zahlungsunfähigkeitsprüfung maßgeblich, ob mit einer Inanspruchnahme mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu rechnen ist (Braun/Salm-Hoogstraeten InsO § 17 Rn. 27; BGH, Urteil vom 22.05.2014 – IX ZR 95/13, NJW-RR 2015, 42 zu den Wirkungen eines Antrags auf Aussetzung der Vollziehung bzw. Stundung eines Steuerbescheids seitens der Finanzverwaltung bei Steuerforderungen; Leithaus/Wachholtz, ZIP 2019, 649, 651 m.w.N.). Bei der Frage der Berücksichtigung einer streitigen Forderung kommt es insbesondere darauf an, ob der Insolvenzschuldner ernsthafte Zweifel an der Existenz bzw. der Durchsetzung einer Forderung hat bzw. die Einwendungen gegen die Forderung nicht von vornherein abwegig erscheinen (Nickert/Lamberti/Kriegel, Überschuldungs- und Zahlungsunfähigkeitsprüfung im Insolvenzrecht, 3. Auflage, 2016, S. 10, Rn. 20).

Im genannten Urteil des BGH vom 22.05.2014 (Az. IX ZR 95/13) hatte die Finanzverwaltung dem Antrag der späteren Insolvenzschuldnerin (die Steuerschuldnerin) auf Aussetzung der Vollziehung wegen vermeintlich unrechtmäßiger Körperschaftsteuerbescheide, die zu Ungunsten der späteren Insolvenzschuldnerin, einer GmbH, ergangen waren, stattgegeben. Die Steuerpflichtige und spätere Insolvenzschuldnerin hatte im zugrundeliegenden Fall gegen die Bescheide Einspruch eingelegt und Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Bescheide beantragt. Für die Zeit, in der das Finanzamt die Vollziehung der Körperschaftsteuerbescheide bzw. der auf deren Grundlage geforderten Steuerzahlungen ausgesetzt hatte, war nicht von einem ernstlichen Einfordern der Finanzverwaltung auszugehen. Die Steuerforderungen waren bei der Feststellung der Zahlungsunfähigkeit somit nicht zu berücksichtigen, da sie nicht als fällige Forderungen i.S.d. § 17 Abs. 2 InsO zu bewerten gewesen seien. Der BGH entschied jedoch, dass ab dem Zeitpunkt, an dem die Vollziehung der Körperschaftssteuerbescheide nicht mehr ausgesetzt war, die Steuerforderungen aus den Steuerbescheiden bei der für die Prüfung der Zahlungsunfähigkeit vorzunehmenden Prognose hätten berücksichtigt werden müssen dies insbesondere, da das Finanzamt mit einem Schreiben die Steuerforderungen wieder zur Zahlung fällig gestellt hatte. Zweifel an der Berechtigung der Steuerforderungen hätten nach Abschluss des finanzgerichtlichen Verfahrens ebenfalls nicht mehr bestanden (BGH, Urteil vom 22.5.2014 – IX ZR 95/13, NJW-RR 2015, 42, Rn. 25 f.).

Die Einbeziehung prozessbefangener Verbindlichkeiten bei der Feststellung der Insolvenz-reife richtet sich nach Auffassung von Pulte danach, ob ein Prozessobsiegen oder eine Prozessniederlage wahrscheinlicher ist (Pulte, ZInsO 2020, 2695). Auch nach einer rechtsmittelfähigen erst- oder zweitinstanzlichen Verurteilung könne daher noch das Vertrauen des verantwortlichen Vertretungsorgans gerechtfertigt sein, der Prozess werde ganz oder teilweise gewonnen, mit der Folge, dass die Verbindlichkeit in die Prüfung der Insolvenzreife gar nicht oder nicht in voller Höhe einfließt, sondern nur quotal (Pulte, ZInsO 2020, 2695 ff.).

In der Literatur wird teilweise die Ansicht vertreten, dass Forderungen, die der Schuldner – ggfs. auch irrtümlich – für unberechtigt hält, nicht zur Feststellung der Zahlungsunfähigkeit geeignet sind, wobei hier zu differenzieren sein sollte, welche Gründe der Schuldner für das Nichtbestehen oder die Nichtdurchsetzbarkeit einer Forderung anführt. Er könnte durch die „Flucht“ in einen Gerichtsprozess die Zahlung und damit den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit nur weiter hinausschieben wollen. Insbesondere wird es darauf ankommen, ob die Höhe der Forderung bestritten wird oder das Bestehen einer Forderung dem Grunde nach. Nach Mock folge aus einem vorläufig vollstreckbaren Titel eine fällige Zahlungspflicht, da dem vorläufig vollstreckbaren Titel eine Verbindlichkeit zugrunde liege, von deren Fälligkeit aufgrund der bereits stattgefundenen gerichtlichen Überprüfung im Zweifel auszugehen sei (Uhlenbruck/Mock InsO § 17 Rn. 118).

Nach Auffassung des IDW Standard S 11 Rz. 26 ff. ist eine prozessbefangene Verbindlichkeit hinsichtlich ihrer Fälligkeit in der Höhe anzusetzen, mit der sie mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zur Zahlung fällig ist. Der IDW S 11 geht von einer ex ante Betrachtung aus.

Zusammenfassend sind für streitige oder prozessbefangene Verbindlichkeiten im Rahmen der Feststellung der Zahlungsunfähigkeit nach § 17 InsO eine Einzelfallbewertung vorzunehmen (Braun/Salm-Hoogstraeten InsO § 17 Rn. 21). Die Umstände des Einzelfalls entscheiden darüber, ob und ggfs. in welcher Höhe eine bestrittene oder prozessbefangene Verbindlichkeit bei der Zahlungsunfähigkeitsprüfung als fällige Verbindlichkeit zu berücksichtigen ist. Insbesondere ist die Wahrscheinlichkeit einer Inanspruchnahme ausschlaggebend und die Frage, ob das Bestehen einer Verbindlichkeit der Höhe nach oder dem Grunde nach bestritten wird. Aus Praktiker-Sicht sollte immer eine vorsichtige Betrachtung gewählt werden. Die Verbindlichkeit ist als fällig im Finanzstatus zu berücksichtigen mit dem Betrag, der nach vernünftiger kaufmännischer Beurteilung zu zahlen ist. Hier ist eine Ermessensentscheidung nötig. Um die Haftung für den Geschäftsführer und ggf. die Berater bei der Prüfung der Insolvenzantragstellung zu vermeiden, sollte der fällige Betrag vorsichtig ermittelt werden. Auf jeden Fall sollte der voraussichtlich zu zahlende Betrag als Liquiditätsreserve vorgehalten werden und nicht zur Zahlung anderer fälliger Verbindlichkeiten genutzt werden. Nur so kann dem Einwand entgegengetreten werden, dass nicht ausreichend liquide Mittel vorhanden waren.

 

Bedeutung für die Praxis der Insolvenzverwalter

Wie dargestellt, beantwortet die Literatur die Frage der Berücksichtigung (aus Sicht des Insolvenzschuldners) streitiger Verbindlichkeiten nicht einheitlich. Dies stellt Insolvenzverwalter, die für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit ermitteln wollen, vor einige Herausforderungen.

Bei der retrograden Feststellung der Zahlungsunfähigkeit empfiehlt sich daher für die Praxis, sofern sich Anhaltspunkte für das Bestehen streitiger Verbindlichkeiten ergeben, den dem Bestreiten zugrundeliegenden Sachverhalt näher zu durchleuchten. Sofern die Verbindlichkeit lediglich der Höhe nach bestritten wird, und die Einwände des Schuldners nicht von vorne herein unsubstantiiert sind (oder taktisch, um eine eigentlich bereits bestehende Antragspflicht nach § 15a InsO zu umgehen), ist naheliegend, die Verbindlichkeit jedenfalls in Höhe des vom Schuldners akzeptierten (Teil-)Betrages als fällige Verbindlichkeit im Finanzstatus zum Prüfungsstichtag einzustellen. Ist das Bestehen der Verbindlichkeit dem Grunde nach bestritten, also die Existenz der Verbindlichkeit an sich fraglich, sollten sämtliche zur Verfügung stehenden Unterlagen / Informationen zusammengetragen und ausgewertet werden. Sofern die Verbindlichkeit Gegenstand eines Gerichtsverfahrens ist, empfiehlt es sich insbesondere, die Gerichtsakte des Gerichts, bei dem das Verfahren anhängig gemacht wurde, heranzuziehen. Je nachdem, ob die Umstände für eine überwiegende Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme sprechen - etwa, weil bereits erstinstanzlich ein Urteil ergangen ist, das zumindest vorläufig vollstreckbar ist - so ist die Verbindlichkeit als fällig in den Finanzstatus einzubauen. Kann nicht beurteilt werden, wie wahrscheinlich die Inanspruchnahme ist und hängt der Eintritt der Zahlungsunfähigkeit von dieser streitigen Verbindlichkeit nicht ab, so sollte nach dem Vorsichtsprinzip die Verbindlichkeit nicht als fällige Verbindlichkeit berücksichtigt werden – jedenfalls nicht zum Prüfungsstichtag, jedoch ggfs. im weiteren Zeitablauf, je nachdem, wie sich die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme verändert. Ist das Bestehen der streitigen Verbindlichkeit maßgeblich für den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit, empfiehlt sich eine tiefergehende Analyse des Sach- und Streitstandes im Zusammenhang mit dieser streitigen Verbindlichkeit und eine vorsichtige Betrachtung insofern, dass zumindest ein Teil der Verbindlichkeit als fällig im Finanzstatus einzustellen ist.

 

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gez. Dr. Andreas Pink, Wirtschaftsprüfer / Steuerberater

gez. Kenza Thos, Bachelor of Law (LL.B.) 22.05.2023