BGH Urt. v. 28.06.22 II ZR 112-21 – Zur Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit

Von Kenza Thos 09. March 2023 5 min. Lesezeit
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BGH Urt. v. 28.06.22 II ZR 112-21 – Zur Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit anhand statischer Liquiditätsstatus

Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit: Die „Vier-Stichtage-Liquiditätsbetrachtung des BGH“; BGH bestätigt Darlegung der Zahlungsunfähigkeit mittels statischer Liquiditätsstatus (Urteil vom 28.06.2022, Az. II ZR 122/21)

Einleitend:

„Zahlungsunfähigkeit i.S.d. § 17 II 1 InsO muss nicht durch Aufstellung einer Liquiditätsbilanz, sondern kann auch mit anderen Mitteln dargelegt werden.“ So lautet der Leitsatz des am 01.08.2022 veröffentlichten Urteils des für Gesellschaftsrecht zuständigen II. Zivilsenats des BGH vom 28.06.2022 (Az. II ZR 122/21; NZI 2022, 787). Damit konstatiert der BGH, dass zur Ermittlung oder Prüfung der Zahlungsunfähigkeit keine Zeitraumbetrachtung mittels Aufstellung einer sogenannten Liquiditätsbilanz, bei der die Liquiditätslücke mittels Verhältnis der Summen von Aktiva I und II zu Passiva I und II ermittelt wird (vgl. BGH, Urteil vom 19.12.2017, Az. II ZR 88/16), erforderlich ist. Eine Ermittlung oder Prüfung der Zahlungsunfähigkeit sei auch mittels mehrerer tagesgenauer Liquiditätsstatus unter Zugrundlegung statischer Liquiditätsdaten ebenfalls möglich. Dieses Urteil ist für die Verwalterpraxis sehr erfreulich, da die für die Geltendmachung von Anfechtungs- und Haftungsansprüchen erforderliche Darlegung der Zahlungsunfähigkeit so mit deutlich weniger Aufwand und Kosten möglich sein wird. Erfreulich ist das BGH-Urteil auch für unsere Kanzlei, da der Insolvenzverwalter in dem Sachverhalt, der dem Urteil des BGH vom 28.06.2022 zugrunde lag, zur Darlegung der Zahlungsunfähigkeit ein von unserer Kanzlei erstelltes Zahlungsunfähigkeitsgutachten herangezogen hatte. Unser Vorgehen zur Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit ist somit „BGH-approved“.

 

Was genau war Gegenstand des Urteils des BGH vom 28.06.2022 und zu welchen Neuerungen kommt es bei der Ermittlung oder Prüfung der Zahlungsunfähigkeit?

In dem Sachverhalt, der dem Urteil des II. Zivilsenats des BGH (Senat für Gesellschaftsrecht) vom 28.06.2022 zugrunde lag, ging es um einen Haftungsprozess, den der Insolvenzverwalter gegen den Geschäftsführer der Insolvenzschuldnerin, über deren Vermögen am 01.05.2014 das Insolvenzverfahren eröffnet worden war, angestrengt hatte. Er forderte vom beklagten Geschäftsführer Ersatz für nach Eintritt der Insolvenzreife vorgenommene Zahlungen in Höhe von rd. € 3,1 Mio. (§ 64 GmbHG a.F.). Laut Vortrag des Insolvenzverwalters war bereits zum 31.12.2012 Zahlungsunfähigkeit eingetreten. Für die Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit stützte sich der Insolvenzverwalter dabei auf ein von unserer Kanzlei erstelltes Gutachten zur Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzeröffnungsgründen (sogenanntes IDW S 11 Gutachten). Die verbotenen Zahlungen waren im November und Dezember 2013 erfolgt, somit nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit. Zahlungsempfänger war die Muttergesellschaft der Insolvenzschuldnerin. Die Zahlungseingänge erfolgten auf ein Cash-Pool-Konto, das von der Muttergesellschaft der Insolvenzschuldnerin geführt wurde.

Der BGH hat in seinem Urteil vom 28.06.2022 klargestellt, dass die Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit auf Basis eines stichtagsbezogenen Finanzstatus und eines Finanzplans, der die Einzahlungen und Auszahlungen der dem Stichtag folgenden drei Wochen gegenüberstellt, zulässig ist.

Für den Nachweis der Zahlungsunfähigkeit hatte der Insolvenzverwalter uns beauftragt, ein Zahlungsunfähigkeitsgutachten nach IDW S 11 zu erstellen. Zum Zeitpunkt der Auftragserteilung war das Urteil des BGH vom 19.12.2017 (Az. II ZR 88/16), in dem der BGH festhielt, dass bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit die sogenannten Aktiva II und Passiva II zu berücksichtigen seien, noch nicht ergangen. Im Gutachten hatten wir zunächst zum 31.12.2012 einen Finanzstatus aufgestellt. Zum Stichtag betrug die Deckungslücke 54,8 %, weshalb zur Abgrenzung einer Zahlungsstockung in den folgenden drei Wochen jeweils ein weiterer Finanzstatus aufzustellen war. Zum 07.01.2013, zum 16.01.2013 und zum 21.01.2013 wurden weitere Finanzstatus aufgestellt. Die Liquiditätslücke lag an den weiteren Stichtagen bei jeweils zwischen 44% und 62 % und lag damit deutlich über der vom BGH in seiner Grundsatz-Entscheidung vom 24.05.2005 (Az. IX ZR 123/04) festgelegten 10 %-Grenze als Voraussetzung der Zahlungsunfähigkeit i.S.d. § 17 InsO. Der BGH hat unsere dargelegte Berechnungsmethode nunmehr ausdrücklich als zulässig anerkannt.

Im Übrigen ist der BGH auch unserer Methode zur Berücksichtigung von Zahlungsansprüchen aus einem Cash-Pool als liquide Mittel im Rahmen der Zahlungsunfähigkeitsprüfung gefolgt. Die Insolvenzschuldnerin war an einen Cash-Pool angeschlossen. Das Cash-Pool-Konto führte die Muttergesellschaft der Insolvenzschuldnerin. Guthaben der Insolvenzschuldnerin wurden am Ende eines jeden Arbeitstages auf das Cash-Pool-Konto übertragen (sog. „Upstream-Loan“). Benötigte die Insolvenzschuldnerin Liquidität, wurde diese über das Cash-Pool-Konto bereitgestellt („Downstream-Loan“). Wir hatten die maximale freie Kreditlinie des Cash-Pool-Kontos zugunsten der Insolvenzschuldnerin zum Stichtag als deren freie liquide Mittel berücksichtigt, obwohl die Kreditlinie allen an den Cash-Pool angeschlossenen Unternehmen aus der Unternehmensgruppe zur Verfügung gestanden hätte. Insofern haben wir eine vorsichtige Betrachtung der freien liquiden Mittel vorgenommen. Selbst bei Berücksichtigung der gesamten freien Linie des Cash-Pools ausschließlich bei der Insolvenzschuldnerin war die Deckungslücke größer als 10 % und die Insolvenzschuldnerin nachweislich zahlungsunfähig.

Bisher wurde die Zahlungsunfähigkeit – in Anlehnung an die BGH-Rechtsprechung (Urteile des BGH vom 24.05.2005, Az. IX ZR 123/04 sowie vom 19.12.2017, Az. II ZR 88/16) sowie des Standards des IDW e.V. zur Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzeröffnungsgründen (IDW S 11) – durch Aufstellung eines stichtagsbezogenen Finanzstatus sowie einer Art dynamischen Bilanz (sog. Liquiditätsbilanz) ermittelt.

Dabei sind in einem ersten Schritt die zum Stichtag verfügbaren Zahlungsmittel (sogenannte Aktiva I) und die zum Stichtag fälligen und ernstlich eingeforderten fälligen Verbindlichkeiten (sogenannte Passiva I) in einem sog. Liquiditätsstatus / Finanzstatus gegenüberzustellen. Sofern 10 % oder mehr der fälligen Zahlungsverpflichtungen nicht durch die verfügbaren liquiden Mittel gedeckt sind – also eine sogenannte Liquiditätslücke besteht –, ist im zweiten Schritt in einer sogenannten Liquiditätsbilanz auf der Aktivseite den Aktiva I die innerhalb von drei Wochen flüssig zu machenden Mittel (sogenannte Aktiva II) hinzuzuaddieren und zu den Passiva I sowie den innerhalb von drei Wochen fällig werdenden und eingeforderten Verbindlichkeiten (sogenannte Passiva II) ins Verhältnis zu setzen (BGH, Urteil vom 19.12.2017, Az. II ZR 88/16). Wird die Liquiditätslücke auch in den folgenden drei Wochen nicht geschlossen (beträgt die Lücke weiterhin 10 % oder mehr) ist von der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners auszugehen und nicht lediglich von einer Zahlungsstockung (BGH, Urteil vom 24.05.2005 – IX ZR 123/04). Die 10 %-Schwelle stellt dabei eine widerlegbare Regelvermutung dar (Brünkmans/Clev, ZInsO 2022, 2272, 2278; m.w.N.).

Die Vorgabe der Rechtsprechung zur Ermittlung der Deckungslücke war bisher jedoch nicht ganz eindeutig. Insbesondere gab es Abweichungen zwischen der Berechnungsmethode des BGH (BGH, Urteil vom 19.12.2017, Az. II ZR 88/16) und der Methode des Instituts der Wirtschaftsprüfer e.V. (IDW S 11, in der Fassung vom 23.08.2021), da der BGH zur Ermittlung der prozentualen Deckungslücke die Aktiva I und II und die Passiva I und II zueinander ins Verhältnis setzte, das IDW e.V. dagegen setzte die Deckungslücke zum 2. Stichtag zu den zum 1. Stichtag bestehenden fälligen Verbindlichkeiten ins Verhältnis. Die Berechnungsmethode führte zwar zu einer gleichen absoluten Deckungslücke, durch die andere Bezugsgröße unterschied sich jedoch die relative (also die prozentuale) Deckungslücke. Das führte in der Literatur und Praxis berechtigterweise zu Kritik und sorgte für viel Diskussionsstoff.

 

Quasi-Abschaffung der Liquiditätsbilanz durch das neue Urteil?

Die höchstrichterliche Rechtsprechung zur „Liquiditätsbilanz“ hat sowohl Wissenschaft als auch Praxis immer beschäftigt (vgl. hierzu bspw. Philipp / Säuberlich, ZInsO 2022, 677 ff., Gutmann, NZI 2021, 473 ff.). Insbesondere ist die Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit unter Heranziehung der sogenannten Aktiva II und Passiva II mit einem enormen Aufwand verbunden. Das Urteil des BGH vom 28.06.2022 bedeutet zwar theoretisch keine Abschaffung der Liquiditätsbilanz. Denn in seiner Entscheidung rekurriert der BGH auf sein Urteil vom 19.12.2017 (Az. II ZR 88/16) und führt hierzu aus, die Darlegung der Zahlungsunfähigkeit müsse nicht zwingend mittels Liquiditätsbilanz erfolgen, sondern könne auch mit anderen Mitteln dargelegt werden. Der BGH relativiert sein Urteil vom 19.12.2017 und die Liquiditätsbilanz jedoch insofern, als das die Darlegung der Zahlungsunfähigkeit mittels statischer Liquiditätsdaten aufgrund des geringeren Aufwands in der Praxis – jedenfalls auf Seiten der Insolvenzverwalter – mehr Anwendung finden dürfte. Daneben ist die von unserer Sozietät damals praktizierte und vom BGH nunmehr mit Urteil vom 28.06.2022 bestätigte Berechnungsmethode auch deshalb zu begrüßen, da sie weniger Manipulationsmöglichkeiten, etwa durch Nichtzahlung von Verbindlichkeiten oder durch den sog. Volumeneffekt, bietet.

 

Folgen für die Beratungs- und Prozesspraxis

Grundsätzlich ermöglicht das Urteil des II. Zivilsenats – Senat für Gesellschaftsrecht – vom 28.06.2022 und die hiermit bestätigte „Vier-Stichtage-Liquiditätsbetrachtung“ dem Insolvenzverwalter, der Anfechtungs- und Haftungsansprüche durchsetzen möchte, eine erleichterte Beweisführung. Insbesondere wird durch stichtagsbezogene Liquiditätsbetrachtung Zahlungsunfähigkeit in der Regel früher festzustellen sein als anhand der Liquiditätsbilanz. Fraglich ist jedoch, welchem Modell die Rechtsprechung den Vorzug geben wird, sofern – und hierzu wird es in der Praxis kommen – die jeweiligen Berechnungsmethoden zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.

Für den Geschäftsführer, der die Insolvenzreife ex ante – also prognostisch – prüft, dürfte es durch die statische Liquiditätsbetrachtung einerseits leichter sein, die Zahlungsunfähigkeit festzustellen. Auf der anderen Seite besteht nach den Feststellungen des BGH in seinem Urteil vom 28.06.2022 auch ein höheres Risiko für den Geschäftsführer, der nun bei Krisenanzeichen regelmäßig Liquiditätsstatus aufzustellen hat, um sicherzustellen, dass sein Unternehmen nicht insolvenzreif ist. Insofern obliegt dem Geschäftsführer die Pflicht, rollierend Finanzstatus zu erstellen. Andernfalls könnte er in einem späteren Insolvenzverfahren Haftungsansprüchen nach § 64 GmbHG a.F. / § 15b InsO ausgesetzt sein.

 

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Gez. Kenza Thos, Bachelor of Law (LL:B.) 09.03.2023